Erst tauchte Greta Thunberg auf, die junge Dame, die auf internationalen Plattformen sich ganz kühl und klar für Klima und Naturschutz nicht nur ausgesprochen, sondern dafür mit ihrem Schulstreiks eine ganze Jugendbewegung, „Fridays vor Future“, ins Leben gerufen hat. Die “Jeanne d’Arc des Kapitalismus“, wie Jean Ziegler sie genannt hat, kam im Dezember 2018 zum Weltklimagipfel in Kattowitz in Polen und hielt eine Rede, die ich hier ohne zu zögern und zu zweifeln als „historisch“ und „revolutionär“ bezeichne. Sie beebdete ihre Rede mit folgenden Worten: „We need to keep the fossil fuels in the ground and we need to focus on equity. And if solutions within the system are so impossible to find, then maybe we should change the system itself. We have not come here to beg our leaders to care. You have ignored us in the past and you will ignore us again. We have run out of excuse and we are running out of time. We have come here to let you know that change is coming whether you like it or nor. The real power belongs to the people.“ Die damals 15-jährige Schülerin aus Schweden sagte das in einem perfekten Englisch, ganz ruhig (Text auf deutsch), ohne emotionale Gestik und unbewegter Mimik, bedankte sich höflich beim Publikum und ging vom Pult. Die Rede schlug bei den jungen Menschen ein wie eine Bombe: Schüler*innen, Student*innen, Azubis und Azubinen nahmen sie zum Vorbild, marschierten freitags von der Schule weg auf die Straßen und wussten zum großen Teil ihre Eltern und Lehrer*innen hinter sich ebenso wie Wissenschaftler und Experten. Hilflose Gegenreden wie die des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, sie sollten weiter zur Schule gehen und die Lösung der Umweltkrise „den Experten überlassen“, wurden zur Lachnummer.
Auch Rezo, der 26-jährigerYouTuber, will in seinem inzwischen berühmt-(für die CDU)berüchtigten Video „Die Zerstörung der CDU“ (in Anlehnung an die Destroy-(X)-Welle auf den sozialen Kanälen) einen „drastischen Kurswechsel“ und artikuliert das kurz vor den Wahlen zum Europaparlament etwas anders als Greta Thunberg.
„Sonst sind wir faktisch gefickt!“ – Diese Schlussfolgerung zieht Rezo aus seinen Ausführungen zu der bisherigen Politik der CDU und SPD, die er am Ende seiner Präsentation so zusammenfasst: „Wie haben gesehen, wie diese Leute lügen, wie sie teilweise inkompetent in ihrem eigenen Job sind, wie durch sie die soziale Ungerechtigkeit extrem steigt, wie sie irrationale Entscheidungen treffen, nur um ein paar Reiche noch reicher zu machen, und das auf Kosten der Allgemeinheit. Wie haben gesehen, dass sie augenscheinliche Völkerrechtsbrüche oder Kriegsverbrechen dulden oder sogar unterstützten. …“ (Hervorhebungen durch Autorin). Das alles zeigt Rezo anhand von Beispielen, die er mit Quellen untermauert und hin und wieder mit jugendlichen Kraftausdrücken unterstreicht, um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen. Einige Themen wie die NSA-Affäre, Waffenexporte und Überwachungsstaat etc. lässt er aus, nicht um Gnade vor Recht ergehen zu lassen, sondern weil das Video sonst zu lang gewesen wäre. Sein Fazit: Der Konsens unter Experten ginge dahin, dass „der aktuelle Kurs der CDU und SPD wird unsere Zukunft zerstören“ wird.
Annegret Kramp-Karrenbauers (aka AKK) Entrüstung
Dieses Youtube-Video wurde bereits vor der Europa-Wahl millionenfach und inzwischen rd. 15 Mio. mal angeklickt und hatte große mediale Resonanz. Dessen nicht genug: rd. 70 YouTube-Influencer produzierten zur Unterstützung Rezos noch ein Anti-CDU-Video. Die Frage, ob die für CDU und SPD desaströsen Wahlergebnisse mit diesen Videos zusammenhängen sei dahingestellt. Jedenfalls hat die derzeitige CDU-Vorsitzende Annegrat Kramp-Karrenbauer (im Folgenden als AKK abgekürzt) selbst diesen Zusammenhang konstruiert. Denn nach der Wahl stellte sich eine frustrierte AKK vor die Kameras und sagte folgendes: „… habe ich mich gefragt, wenn eine Reihe – so sagen wir mal- 70 Zeitungsredaktionen zwei Tage vor der Wahl erklärt hätten „wir haben einen gemeinsamen Aufruf; wählt bitte nicht die CDU und die SPD!“, das wäre klare Meinungsmache vor der Wahl gewesen. Und ich glaube, es hätte eine muntere Diskussion in diesem Land ausgelöst. Und die Frage stellt sich schon mit Blick auf das Thema Meinungsmache, was sind eigentlich Regeln aus dem analogen Bereich, und welche Regeln gelten eigentlich für den digitalen Bereich? Ja oder Nein?“ (???, die Autorin)
Abgesehen davon, dass die Regeln für die Meinungsäußerung im analogen genauso gelten wie im digitalen Bereich: Wie düster es um die Kommunikation der politischen Elite gegenüber dem Wahlvolk überhaupt bestellt ist – Jugendlichen gegenüber im Besonderen erst einmal ausgenommen – wird aus dem obigen Zitat deutlich, die noch nicht einmal eine Aussage darstellt – von Klarheit ganz zu schweigen.
Meinungsmache? Ja! Es werden Meinungen gemacht und gebildet in einer… na!… Demokratie! Auch und gerade vor den Wahlen. Nur: Meinungen müssen begründet sein, da sie immer auch einer Erklärung bedürfen, um überzeugend zu sein. In dieser Hinsicht ist Rezo recht überzeugend. Seine Forderung nach einem „drastischen Kurswechsel“ begründet Rezo mit nichts weniger als wissenschaftlichen Ergebnissen von Experten, für die er Quellen angibt, damit jede/r diese Position nachvollziehen und ggf. beanstanden kann. Dass seitens der CDU keine grundlegende Kritik der Ausführungen und der Quellen erfolgt ist, nicht auf den Inhalt des Videos eingegangen wurde, bedeutet: da gibt es nichts in Frage zu stellen. Es gab lediglich ein elf Seiten umfassendes pdf-Papier mit unzureichenden und schnell widerlegbaren Rechtfertigungen. Das Video jedoch hatte die Wirkung einer Granate, verunsicherte und scheuchte die CDU dermaßen auf, weil der Einwurf aus einer unvermuteten Ecke kam. Argumente und Hinweise auf den Klimawandel, die soziale Ungerechtigkeit, Widersprüche und Rechtsbrüche in der Außenpolitik, Fragen der Migration etc. seitens der Linken und der Grünen wusste die CDU mit gewohnten Stellungnahmen zu parieren, nicht ernst zu nehmen oder einfach zu ignorieren. Aber was war DAS?
AKK drohte: „Das ist eine sehr grundlegende Frage, über die wir uns unterhalten werden, und zwar nicht nur in der CDU und mit der CDU (?, die Autorin), sondern ich bin mir ganz sicher, in der gesamten medienpolitischen und auch der demokratietheoretischen Diskussion der nächsten Zeit wird das eine Rolle spielen. Und deswegen werden wir diese Diskussion auch sehr offensiv angehen.“ Offensiv angehen? Was sollte das heißen? Etwa Zensur als Schutzschild? Nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung? Das ist die Position, wenn die Argumente ausgehen bzw. nie welche existiert haben.
Die unbeholfene und aggressive Reaktion der nach diesem politischen Faux-pas womöglich nicht mehr angehenden Kanzlerin AKK auf die Social Media-Herausforderung hat die CDU noch einmal von innen heraus demontiert. Rezo hat damit wieder recht behalten: “Das wird ein Zerstörungsvideo, nicht weil ich aktiv versuche, jemanden zu zerstören, sondern weil die Fakten und Tatsachen einfach dafür sprechen, dass die CDU sich selbst, ihren Ruf und ihr Wahlergebnis damit selbst zerstört.“ Damit hat er sozusagen völlig ins Schwarze getroffen.
Jugend sucht Wahrheit
Sowohl in Rezos Video als auch in dem von jungen Influencern zu seiner Unterstützung veröffentlichten Youtube-Video ist immer wieder nachdrücklich zu hören: Es sei wichtig, „rationale Entscheidungen zu treffen, die im Einklang mit Logik und Wissenschaft stehen“, „kein abstraktes Szenario, sondern berechenbares Ergebnis der aktuellen Politik“, nicht sie würden das behaupten, sondern dies sei der „Konsens in der Wissenschaft“, „der Experten“, die sich sicher seien, „nicht ein paar, sondern unzählige unabhängige Studien“…
In Schule und Universität lernen die Jugendlichen, dass Fakten und Forschungsergebnisse zählen, in der Ausbildung lernen sie mit ihnen, also mit Fakten und Materie, umzugehen. Auf der anderen Seite beobachten sie wie Politik, Parteien und große Interessengruppen einerseits, und die sog. „Wirtschaft“, Konzerne, und Lobbies andererseits, ihre eigenen sog. „alternative Fakten“ schaffen und ihrer eigene Wahrheit konstruieren – um der Macht und des Profits willen und auf Kosten von Mensch und Natur.
Der eklatante Widerspruch zwischen dem, was sie lernen und dem, was sie beobachten drängt der Jugend eine Entscheidung auf – nicht zuletzt angesichts der Klimaerwärmung, der damit verbundenen Klimakatastrophen und der Aussicht auf eine düstere Zukunft. Ihre
Aktionen beruhen auf der Schlussfolgerung, dass der Natur niemand mit irgendwelchen „alternativen Fakten“ oder sonstigen Profit- oder Machtvorstellungen kommen kann und dass das Leben der Menschheit im Einklang mit der Natur ohne eine Transformation der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht möglich ist.
Junge Menschen (auch die Friday for Future-Bewegung) haben erkannt, dass es nicht mehr um divergierenden Meinungen geht – z.B. ob es eine Klimaerwärmung gibt, wenn ja, ob
der Mensch dafür verantwortlich ist oder nicht etc. Die Materie wurde bereits hinlänglich erforscht, es ist wissenschaftlich bewiesen, wer wofür verantwortlich ist. Das Problem ist vorhanden, seine Beschaffenheit ist geklärt, Lösungsmöglichkeiten sind formuliert. Fest steht nur: es muss schnell etwas getan werden gehen.
Die Jugend bekennt sich somit notwendigerweise praktisch zum philosophischen Realismus: Es gibt eine von uns unabhängige materielle, natürlische Welt außerhalb von uns, in der und mit der wir interagieren, von der wir aber gleichzeitig ein Teil bzw. ein Moment und somit abhängig sind. Natürlich haben wir auch um uns herum eine künstliche Welt konstruiert; doch unsere Konstruktionen wirken auf die eine Wirklichkeit außer uns, nämlich die Natur, die wir nicht konstruiert haben. Wir waren bisher damit beschäftigt, diese Wirklichkeit zu beherrschen, auszubeuten, uns „die Natur untertan zu machen“. Das Ergebnis ist die Zerstörung der Natur.: Klimawandel, Artensterben, Verschmutzung der Weltmeere, der Luft, des Bodens etc. etc. Daraus ziehen heute junge Menschen die Konsequenz des Widerspruchs.. Möglicherweise ist damit nicht nur ein politischer Frühling, sondern auch die philosophische Wende vom Konstruktivismus zum Realismus einläutet, wer weiß?
Die unflätige Sprache der jugendlichen Auflehnung
Für manche erfrischender Ausdruck des jugendlichen Protests, für andere vulgäres Zeichen des endgültigen Untergangs deutscher Bildungskultur. So was im Land der Dichter und Denker! Goethe und Schiller würden sich im Grab umdrehen… oder? Was würden sie wohl zu Rezos mit flammender Rhetorik aufbereiteter, doch an kritischen Stellen mit pikanten Indezenzen bestückter Rede, die manchen wohlerzogenen zugeneigten Zuschauer*innen die Schamesröte ins Gesicht treiben mögen, sagen? Aber wir sollten eigentlich spätestens nach dem Film „Fack ju Göhte“ auf starken Tobak vorbereitet sein.
Rezo hat „fucking viele Belege!“, findet Europa-Politik eigentlich „fucking langweilig“ und es ist so „fucking heftig!“, was er aus seinen Quellen zum Klimawandel erfahren hat. Wie die CDU und die SPD durch ihre ungerechte Wirtschaftspolitik zusehen, wie viele Menschen „abloosen“; „aber heyyy! CDU-die Partei der kleinen Leute!“, „lol!“ über „fun facts“ etc.
Es geht auch nicht darum Rezo zu rügen. Das Letzte, was hier passieren wird, ist es, die sprachliche Sittenpolizei zu spielen und der Jugend, hier in Rezo personifiziert, eine unmoralische Redeweise vorzuwerfen. Es geht um die Wirkung der intensionalen Wirkung der sexualisierten Sprache, also nicht um die Benennung von sexuellen Handlungen, sondern um ihre Bedeutung im Kontext ihres Gebrauchs. Es geht darum, dass wohlerzogene systemkonforme Erwachsene und systemaffine Jugendliche -wie der gleichaltrige CDU-Shooting Star Philipp Amthor, der ein entsprechend misslungenes Gegenvideo vorbereitet haben soll, das nicht mehr veröffentlicht worden ist – diese Sprache niemals (öffentlich!) gebrauchen würden. Genau das tut aber Rezo – ob er sich dessen bewusst war/ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen: er zieht mit seiner Sprache eine Grenze zwischen sich- der Jugend, der Zukunft- und der CDU/CSU und SPD (und AfD), die die Zukunft der Jugend zerstören, wohl wissend, dass sie diesen Aufschrei nicht hören werden, er dafür aber umso stärker von der Jugend wahrgenommen und auch verstanden wird, weil er selbst einer von ihnen ist.
Wir können Rezo die Ausdrucksweise vorhalten und ihm wegen der Sexualisierung und Vulgarisierung seiner Kritik Unreife vorwerfen, seine Ausführungen bagatellisieren oder ihm sogar jede Mündigkeit absprechen. Aber schauen wir uns wenigstens eine solche Äußerung, die diesen Beitrag als Überschrift krönt, einmal genauer an:
„Wir werden faktisch gefickt“: „Wir“ das sind derjenige, der diesen Satz ausspricht, also Rezo, seine Adressat*innen, über diese hinaus das gesamte Wahlvolk; wir können den Kreis weiter ziehen über Europa und im Grunde die ganze Welt, wenn wir die von Rezo angeprangerten Themenfelder wie Klima- und Außenpolitik betrachten. Der Satz ist im Passivmodus, das Objekt mit dem etwas gemacht wird, sind „wir“, passiv gemacht, paralysiert. Jemand benutzt uns, um seine Lust zu befriedigen oder um seines eigenen Vorteils willen; wir empfinden keine Lust dabei, wir werden getrieben bzw. sehen keinen Sinn in der Aktion, das Ganze passiert quasi gegen unseren Willen bzw. ohne unsere Mitwirkung– ergo: wir werden quasi ver-gewalt-igt. Das Wort „Gewalt“ kristallisiert sich aus dieser Äußerung heraus. Wenn wir den Gewaltbegriff aus dem sexualisierten Deutungsfeld „gefickt werden“ abstrahieren und in den politischen Kontext einsetzen, in dem heraus er artikuliert wurde, heißt es übersetzt: „Uns wird politische Gewalt angetan.“ Im extremsten Falle: „Wir werden zerstört.“ Nach dem unausgesprochenen Subjekt des Satzes muss der Adressat nicht lange suchen: die Parteien, die wir nicht mehr wählen sollen, ganz vorne die CDU: „Die CDU vergeht sich an der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland durch politische und sozioökonomische Gewalt, sie tut der Natur und uns Gewalt an.“
So schamlos und unerhört obszön diese Äußerung „Wir werden faktisch gefickt!“ auch scheint und so unschicklich für die Kritik an einer politischen Partei, die seit Jahren die Regierungsgewalt innehat, so unschuldig ist sie immer noch in der äußersten jugendlichen Anstrengung, im Grund Unerhörtes herauszuschreien. Das ist keine liederliche Krawallmache, sondern schriller Alarm.
Auch wenn es nicht zur Gewohnheit werden sollten, mit Worten aus dem sexuellen Bedeutungsfeld im politischen Diskurs zu verwenden, lassen sich mit ihnen politische Vorgänge im übertragenen Sinn oft adäquat beschreiben. Die Jugendsprache ist eine konstruierte Sprache (hier wird Sprache als Instrument für einen bestimmten Zweck konstruiert; das hat nichts mit dem philosophischen Konstruktivismus zu tun) zum Zweck der Grenzziehung und des Widerspruchs. In Rezos Fall hat sie ihren Zweck mit Bravour erfüllt.
Als gebildeter junger Mann (studierter Informatiker) hätte Rezo seine CDU-Kritik oder meinetwegen „-Zerstörung“ problemlos anhand seiner Quellen wissenschaftlich artikulieren können, nur: wie viele Leute hätten dann sein Youtube-Video angeklick? Er hat den vulgären Stil mit pointiertem Einsatz zum Instrument gewählt und sie authentisch gebraucht, um am Ende zu sagen: „Der Kaiser ist nackt!“
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