A World Citizen’s Journal

Erdoǧans Unbehagen – Wechselkursspiele zur Einstimmung auf Wahlen?

Die Kunst des politischen Hokuspokus  beherrscht der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoǧan wie kein Zweiter. Erst täuscht er die „Rettung“ der Lira vor dem eigens ausgelösten  freien Fall vor. Nun sollen künftige Rivalen im Wettbewerb um die Präsidentschaft ausgeschaltet werden.

Seit September 2021 überschlugen sich die Meldungen von Zinssenkungen durch die Türkische Zentralbank. Den Wert der Türkischen Lira setzte Erdoǧan seit seinem Amtsantritt 2018 willkürlich herab; dabei tauschte er gleichzeitig einen Zentralbankchef und Finanzminister nach dem anderen aus, der nachfolgende jeweils williger als der vorherige, den Wunsch Erdoǧans zu erfüllen. Über jede fehlende Qualifikation wurde großzügig hinweggesehen. Aber was sage ich, das ist bei autoritären Patronagesystemen ja kein unbekanntes Phänomen.

Erdoǧan hatte ja auch nachdem er selbst im Juli 2018 seinen Schwiegersohn Berat Albayrak zu „seinem“ Finanzminister ernannt. Dieser hatte am 08. November 2020 sein Amt per Instagram-Nachricht gekündigt. Den neuen Zentralbankchef Naci Aǧbal, den sein Schwiegervater einen Tag vorher ernannt hatte und der sein Vorgänger im Finanzministerposten gewesen war, konnte Albayrak nicht leiden. Denn Albayrak war eine Verfechter der „wettbewerbsorientierten Wechselkurspolitik“, d.h. Zinsen senken, Krediten verbilligen, Geld drucken, Exporte für das Ausland somit billiger machen und mit den Devisen aus dem Export die hohen Schulden tilgen –  dabei die Löhne stark drücken; so stark, dass sich die Arbeiterschaft, von der die Hälfte mit dem Mindestlohn auskommen muss, sich bei der extremen Teuerungsrate und der  hohen Inflation – reel auf ca. 60% geschätzt – kaum etwas leisten kann.

Nach einem kurzen Intermezzo der Zinssteigerung und einer stabilitätsorientierten Geldpolitik unter Naci Aǧbal wurde dieser vier Monate nach seinem Amtsantritt an einem Wochenende wieder entlassen (nach der türkischen Verfassung eigentlich nicht möglich!),  und seitdem verliert die Lira an Wert. Die Namen der eingesetzten Zentralbankchefs sind ab diesem Zeitpunkt nicht mehr wichtig, entscheiden tut Erdoǧan, ich vermute sehr stark in Abstimmung mit seinem Schwiegersohn Berat Albayrak im Hintergrund. Denn nach seiner Kündigung per Instagram ward er in der Öffentlichkeit nicht mehr gesehen.

Seinen Devaluationskurs flankierte Erdoǧan währenddessen ideologisch mit der Religion: im Naskh, so Erdoǧan  (er selbst spricht es als „nass“, eben wie das Gegenteil des deutschen „trocken“ aus), also im heiligen Text, dem Koran, seien Zinsen verboten! Was fiele dem Menschen ein, etwas anderes zu wollen! Wie dem auch sei. Die Währung des Landes hat zwischen Januar und Mitte Dezember mehr als 55 Prozent ihres Wertes zum Euro und US-Dollar verloren. So puschte Erdoǧan die US-Dollar : TL–Parität auf 1 zu 18, die Euro:TL-Parität auf 20 zu 1., so der Stand am 20. Dezember 2021.

Jetzt kommt die Attraktion der Polit-Show: Am selben Abend trat der türkische Staatschef vor die Fernsehkameras und kündigte folgendes an: Er wolle eine „neue finanzielle Alternative anbieten“.

Um die Volatilität des Lira-Kurses aufzuhalten und eine relative Stabilität des Kurses zu gewährleisten, würden „neue Instrumente im Rahmen der Regeln der freien Marktwirtschaft“ eingeführt werden.

Erdoǧan rief nun alle diejenigen Sparerinnen und Sparer, die wegen der Schwäche der einheimischen Währung in anderen Vermögenwerten – vor allem in Immobilien, Aktien und Gold und US-Dollar – Sicherheit gesucht hatten  auf, diese in Lira zu konvertieren und anzulegen.

Denn mit dem zunehmenden Wertverlust der Lira hatten viele Anleger ihre Aktien gegen US-Dollar eingetauscht. Zweimal musste deswegen der Aktienhandel an der Börse die Woche davor aussetzen.

Ein wirtschaftlicher Taschenspielertrick: Dollar-indizierte Enlagen!

Das Geld solle also in der türkischen Währung angelegt und Dollarkäufe abgeblockt werden. Die Zentralbank werde die Verluste der Lira-Einlagen bei Ende der Anlagefrist (nahegelegt wurde eine Jahresfrist) gegenüber dem US-Dollar ausgleichen. Am Ende sollen die Anleger also den normalen Zinssatz erhalten und die Differenz des Dollarwerts, den die Anleger erhalten hätten, wenn sie stattdessen US-Dollar gekauft hätten – in  Lira versteht sich.

Das bedeutet zweierlei: 1. Es muss die Frage beantwortet werden, woher denn die Liras kommen sollen, die für ebendiesen Ausgleich sorgen müssen. Diese müsste die Zentralbank drucken, was die hohe Inflation weiter antreiben würde. Oder es müsste ein spezieller Posten im Haushalt entstehen, der für diesen Ausgleich sorgt, u.a. durch Steuererhöhungen. Oder Schulden aufnehmen. In beiden Fällen wären die Normalbürger und – bürgerinnen der Türkei, also die normalen Steuerzahler, gelackmeiert und würden für die Profite der anderen „abgezogen“ (dieser Ausdruck wurde hier bewusst gewählt).

2. Das FX- indexed (Foreign Exchange indexed/ Fremdwährungsindiziert)-Manöver zeigt außerdem, dass Erdoǧan sich selbst nicht an seine „Zinstheorie“ hält. Denn demnach seien Zinsen erstens die Ursache der Inflation und zweitens seien sie im Islam verboten. Nun stellt sich die Frage, was es denn anderes als Zins bedeutet, wenn Einlagen drei Monate oder meinetwegen ein Jahr auf einem Bankkonto ruhen bzw. der Bank zur Verfügung gestellt und dafür entgolten werden? Der Wert des Geldes heißt „Zins“. Wie dieser Wert denn nun entsteht, ist eine andere Frage. Aber das ist „Zins“.

Schon während der Ankündigung der Stabilisierungsmaßnahmen stieg der Lira-Kurs rapide bis auf etwa 12-13 TL je US-Dollar. Erdoǧan-Anhänger feierten den Triumph ihres „reis“ (zu deutsch „Führer“ bzw. „Oberhaupt“), indem sie, wie regierungsnahe Medien zeigten, um ein offenes Feuer tanzten und dabei „Dollar“ verbrannten.

Was sind die Ziele des Lira-Rettungspakets?

Das von Erdogan deklarierte Ziel ist, den Wertverfall der Lira aufzuhalten. An der „Zinssenkung“ will er festhalten.

„Von nun an braucht keiner unserer Bürger mehr seine Einlagen – in der Erwartung höherer Kurse – aus der Türkischen Lira abzuziehen, um damit Devisen zu kaufen.“ (Übersetzung durch Autorin)

Das nicht deklarierte Ziel ist, reiche Anleger vor eventuellen Wechsel – und Aktienkursrisiken zu schützen, denn auch große Exportfirmen sahen es wohl mit der Zeit als langfristig sicherer an, ihr Vermögen in US-Dollar zu halten als langfristig in die Realwirtschaft zu investieren.

Durch das Regierungsprogramm soll sich außerdem nicht nur die Lira an den Höhen und Tiefen des US-Dollar orientieren, was eine Dollarisation der gesamten türkischen Wirtschaft nach sich zieht. Auch eine Kapitalertragssteuer soll entfallen. Weitere Unterstützung für die Exporteure ist angedacht.

Das Ganze ist aber noch nicht in trockenen Tüchern, denn es fehlt noch ein rechtlicher Rahmen. Dennoch werden schon einmal Fakten geschaffen; das Recht wird, wie es aussieht, hinterher angepasst. Mit der aktuellen Zusammensetzung im türkischen Parlament hat die Regierung keine Hindernisse zu befürchten. Denn die Einwände und der Widerstand der Opposition verschwinden soweit – erst recht seit der Einrichtung des quasi-absolutistischen Ein-Mann-Regimes  – ungehört in den Parlamentsprotokollen.

Insider – Geschäfte?

Doch der neuernannte Finanzminister Nureddin Nebati selbst erklärte in einem Fernsehinterview, wohl vom „Erfolg“ noch überwältigt und ohne die möglichen Wirkung seiner Worte abzuwägen, die Kleinanleger bzw. die kleineren Unternehmen, die in ihrer Unsicherheit noch schnell den Dollar für 18,45 TL gekauft hatten, seien durch diese Entscheidung „geprellt“ worden. Die großen Anleger hätten schon gewusst, wie sie handeln sollten.

Nicht nur das: Auch die Tatsache, dass der Lira-Wert noch während der Rede Erdoǧans plötzlich und rasant gestiegen war, warf Fragen auf: Wie kam es, dass schlagartig noch am selben Abend Milliarden US-Dollar für den Finanzmarkt mobilisiert werden konnten? Dass es die Kleinanleger nicht sein konnten, liegt auf der Hand. Gab es die Weitergabe und Nutzung von Insider-Wissen? Davon gehen viele türkische Finanzexperten aus. Wer wusste vom Plan des Präsidenten, die Sparer devisenindizierte Einlagen (Foreign Exchange (FX) indexed deposit) einrichten zu lassen?

Etwa 7 Milliarden US-Dollar, mit denen die Türkische Zentralbank durch die Staatsbanken in den Devisenmarkt intervenierte, ließen den Lira-Wert in demselben Moment in unerwartete Höhen schießen. Schon bis zum Freitag darauf hatte die Lira 44 % an Wert gewonnen.

Es waren am Ende die Kleinanleger, die den Preis für diese Dollarindizierte Ausgleichsaktion für Lira – Einlagen gezahlt haben, wie auch der Finanzminister zugeben musste.

„Es waren nicht die Großfinanziers, die für 15, 16 oder 17 Lira Dollars kauften. Irgendwie wussten sie, dass sich die Dinge ändern würden. Wer aber wurde geprellt? Die kleinen Anleger. Sie grübeln jetzt darüber!, so der türkische Finanzminister Nureddin Nebati. (Übersetzung und Hervorhebung durch Autorin)

Bankenaufsicht zeigt Kritiker an

Andererseits: Nach Angaben der türkischen Bankenregulations – und aufsichtsbehörde (BDDK) hat sich die Menge an Deviseneinlagen kaum verändert. Die Sparer scheinen trotz allem noch auf den Dollar zu bauen.

Opposition und Kritiker gehen von einem Betrug auf höchster Ebene aus, um regierungsnahe Kapitalistenkreise zu begünstigen. Am Montag (27.12.2021) stellte die türkische Bankenaufsicht Strafanzeige gegen 26 Personen, darunter die Wirtschaftexpertin Güldem Atabay, Selçuk Geçer, Mustafa Balbay, der Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei CHP  Burhanettin Bulut, die ehemaligen Zentralbankchefs Durmuş Yılmaz und Rüşdü Saracoǧlu, und der Halk TV- Wirtschaftsredakteur Emin Çapa. Sie gab es über Twitter bekannt.

Sie werden beschuldigt, unbegründete Informationen zu verbreiten. Sie hätten mit kritischen Tweets und anderen Beiträgen.beabsichtigt, die Währungskurse zu «manipulieren», so der Vorsurf.

Doch sie hatten lediglich eine Erklärung für den so abrupten Kurswechsel gefordert, und fragten: Wie konnten  in sekundenschnelle 7 Milliarden Dollar auf den Markt geschossen werden? Das musste vorbereitet worden sein. Wer wußte Bescheid?

„Es geht für reale Personen gegen den natürlichen Fluss des Lebens, zu Mitternacht fremde Währungen in solche einer großen Menge zu verkaufen. … Dass eine (vorher, H.K.) geplante Devisenverkaufsoperation durch den Staat ausgeführt worden war, wurde tatsächlich erst verstanden, nachdem die tägliche Bilanzaufstellung der Zentralbank veröffentlicht wurde“, so Faik Öztrak der Finanzexperte der Oppositionspartei CHP..

https://habersitesi.org/haber/haber-350054-Oztrak-Hayatin-olagan-akisina-aykiri – Übersetzt von der Autorin

Gab es Personen, Konzerne im In- und Ausland, die wussten, dass durch eine abendliche Dollarschwemme des Devisenmarktes durch die Türkische Zentralbank der Dollar fallen würde? Sodass sie schnell mal ihre Dollars im Höchstkurs von 18,40 gegen Liras ausgetauscht haben, in der Gewissheit, dass die Lira an Wert gewinnen würde?

So hätten diese großen Anleger dann auch gleich die massigen Lira – Depositen für die sie einen dollarindizierten Ausgleich bekommen könnten.

Diejenigen, die von der Operation wussten, haben eine Menge Geld gemacht. Der Rest hat sein Geld und womöglich seinen gesamten Besitz  verloren, weil er in der unsicheren Zeit auf den Dollar gesetzt hatte und möglicherweise dafür sogar Haus und Hof verkauft hatte.

Regierungstreue Medien andererseits feierten die rapide Erholung der Lira als einen Sieg „im Unabhängigkeitskampf der Türkei im Wirtschaftskrieg“. Schon wieder hatte ihr Führer Erdoǧan der Opposition, die auf sein Ende durch die Wirtschaftskrise hoffte, eins ausgewischt! Der Teufelskerl!

Die Wechselkurs – Aktion Erdoǧans  sollte sich dennoch nicht lange an der Tagesaktualität halten, den Montag darauf beschäftigt bereits eine ganz andere Sache die politischen Gemüter: Innenminister Süleman Soylu behauptet nämlich, es seien unter den nach dem Amtsantritt des oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoǧlu, eingestellten Personen 577 „Terroristen“.

Eine willkommene Ablenkung von kritischen Fragen zum Abend des 20. Dezember 2021.

„Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei.“

Dieser Satz wird auf den islamisch-konservativen Politiker Necmettin Erbakan zurückgeführt, der als der Ziehvater Erdoǧans gilt. Im Falle Erdoǧans ist dieser Ausspruch sogar Wirklichkeit geworden. Denn bevor er seine politische Karriere durch das Parlament bis zum Staatspräsidenten angetreten hatte, war Erdoǧan von  1994 -1998  Bürgermmeister von Istanbul.. Auch danach wurde dieses Amt von der Partei Erdoǧans, der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung)  gehalten.

Dies hatte sich bei den Kommunalwahlen am 31.03.2019 geändert. Der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem Imamoǧlu, hatte die Wahl in Istanbul für sich entschieden, mit ca. 13.000 Stimmen Vorsprung. Ein Schock für die AKP: Ihr Kandidat, Binali Yıldırım, hatte voreilig vor Beendigung der Stimmauszählung den Sieg ausgerufen und sich geweigert, das Wahlergebnis anzuerkennen. Auf Druck der AKP hatte die Wahlkommission eine Wiederholung am 23 06.2019 angesetzt. Erneut hatte İmamoǧlu gewonnen, diesmal mit 800.000 Stimmen Vorsprung. Die Istanbulerinnen und Istanbuler hatten damals die AKP für ihre Missachtung des Wahlergebnisses abgestraft.

Der Wahlerfolg der oppositionellen CHP in der Metropole Istanbul und in den wichtigsten Großstädten  der Türkei wie der Hauptstadt Ankara und İzmir war ein harter Schlag in die Magengrube und eine Demütigung Erdoǧans, den er wohl bis heute nicht überwunden hat.

Seitdem versucht er mit Hilfe „seiner Minister“ und seiner Anhänger, jedes Projekt, jede Initiative İmamoǧlus zu sabotieren: Z.B. wurde der Galata-Turm und der Gezi-Park derZuständigkeit des Bürgermeisters entzogen, er und sein Kollege in Ankara, Mansur Yavaş, durften keine Corona-Hilfsfonds einrichten, seine Maßnahme für die Lösung der Taxi-Krise in Istanbul wurde verhindert etc.

Beide Bürgermeister, İmamoǧlu und Yavaş, sind bei der Bevölkerung sehr beliebt. Beiden wird in den letzten Umfragen zugetraut, bei einer Präsidentschaftswahl Erdoǧan von seinem Thron zu stoßen.  Dies versetzt Erdoǧan zusehends in Unruhe.

Nachdem seine Versuche gescheitert sind, die Millet – Allianz aus sechs Oppositionsparteien, die sich die Rückkehr zur Demokratie und zu einem „verstärkten parlamentarischen System“ zum Ziel gesetzt hat, zu spalten, nimmt er den Bürgermeister von Istanbul ins Kreuzfeuer. Innenminister Soylu hat nun, ohne Zweifel in Abstimmung mit dem Prädienten, eine Inspektion angekündigt.  So sollen die 577 „Terroristen“ aus dem Potpourri von präsentierten Terrororganisationen, wohl herausgepickt werden.

Was genau mit dieser „Inspektion“ erzielt werden soll, ist unklar. Dabei müssen alle Jobanwärter für den öffentlichen Dienst wie auch in Deutschland ein polizeiliches Führungszeugnis vorweisen. Wenn tatsächlich Terroristen angestellt worden sein sollten, fällt dies also mit der Frage, warum diese Personen überhaupt ein Führungszeugnis bekommen konnten, auf den Innenminister bzw. den Justizminister zurück.

Insgesamt ist die Aktion nicht sehr glaubwürdig. Es ist offensichtlich, dass die Opposition  in einem Atemzug mit „Terror“, „Terroristen“ und „Terrororganisation“ genannt wird, um sie zu kriminalisieren und in die Defensive zu drängen. Gleichzeitig lenkt der Machtakt von der Unfähigkeit der herrschenden Partei ab, die Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen – für die sie zum größten Teil selber verantwortlich sind.

Bereitet sich Erdoǧan auf Wahlen vor?

Warum hat Erdoǧan die ohnehin schwächelnde Wirtschaft seines Landes erst durch die Entfesselung der Inflation durch Zinssenkungen in drei Monaten an den Rand des Abgrunds geführt, um dann – Überraschung! –nur einige wenige Insider waren wohl vorbereitet und wussten Bescheid  – das Steuerrad in die Gegenrichtung zu drehen? Ging es bei der halsbrecherischen Aktion darum, dem Land zu zeigen, dass er das gemacht hat, weil er es kann, und weil er der einzige im Land ist, der es kann? Dass er und niemals anders die Macht hat, etwas zu verändern und es keine Hoffnung außerhalb seiner gibt? Dieses Verhalten ist für eine autoritär ich-zentrierte Persönlichkeit wie Erdoǧan nicht ungewöhnlich. Den ein wirtschaftlicher Sinn nicht zu erkennen.

Dem Verderben ins Auge zu blicken hat in der Geschichte viele Völker oft genug die Erlösung in einer Führerfigur sehen lassen bzw. war oft eine Taktik für Machterhalt.

Ein Beispiel aus der neuen politischen Geschichte der Türkei sind die Ereignisse nach den Parlamentswahlen am 07. Juni 2015 – wieder ein desaströses Wahlergebnis mit deutlichen Stimmverlusten für die bis dahin mit absoluter Mehrheit regierende AKP. Sie hätte eine Koalition bilden müssen, um weiterregieren zu können. Doch das wollte sie nicht. Sie weigerte sich auch hier, das Wahlergebnis anzuerkennen. Hohe Wahlgewinnerin war pro-kurdische HDP, die Demokratische Partei der Völker, die die Zehnprozenthürde problemlos überwand. Dadurch verhinderte die HDP jedoch die absolute Mehrheit der AKP.

Doch Erdoǧan, seit 2014 schon Präsident, wollte Verfassungsänderungen durchsetzen, die ihm die absolute Macht übertragen sollten.

Eine Serie von Terrorangriffen nachm seinen Lauf: Es begann mit der dem Selbstmordattentat des IS (Islamischer Staat), der 34 junge Menschen, Mitglieder der SDGF (Föderation der Sozialistischen Jugendvereine) in Suruç (Diyarbakır)  tötete und 104 verletzte. Die Jugendlichen wollten über die nahegelegene syrische Grenze ins kurdische Kobane, die im Kampf  gegen den IS (Islamischer Staat) zerstört worden war. Sie wollten helfen, die Stadt wiederaufzubauen.

Nach diesem Anschlag nahm die kurdische PKK den Kampf gegen die türkische Sicherheitskräfte wieder auf.

Am 10. Oktober 2015 fielen 102 Menschen wieder einem IS-Bombenanschlag zum Opfer. Es gab 500 Verletzte. HDP-Anhänger, linke Organisationen und Gewerkschaften  waren zu einer Friedensdemonstration zusammengekommen, um gegen den erneut aufflammenden Krieg zu demonstrieren.

Permament wurden damals HDP-Parteibüros angegriffen und zerstört. Auch heute (28.12.2021),  Ein mit zwei Pistolen und einem Messer bewaffnete Mann drang in ein HDP-Parteibüro in Istanbul ein und verletzte zwei Personen. Bereits am 17. Juni dieses Jahres wurde die HDP-Mitarbeiterin der Partei, Deniz Poyraz, bei einem Angriff auf ein Parteibüro in der westtürkischen Stadt Izmir getötet. Der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder soll morgen beginnen.

Sind dies die ersten Vorfäle, die, wie zwischen den Wahlen im Jahr 2015, eine Welle der Gewalt einleiten sollen?

In diesem Klima der Angst, der Unsicherheit und des Chaos ging die Türkei wieder aam 01. November 2015 zur Wahlurne; die AKP hatte wieder ihre absolute Mehrheit, die HDP kam nur noch sehr knapp über die Wahlhürde.

Fazit

Kehren wir nach diesem kleinen Exkurs in die Vergangenheit, die ja nur sechs Jahre zurückliegt , wieder zurück zu unserer Frage: Will Erdoǧan vorgezogene Wahlen? Ist das, was 2015 „der Kampf gegen den Terror der PKK“ war, nun der „Unabhängigkeitskampf“ gegen „die äußeren Mächte“, gegen „die Zinslobby“?

Ich sage: ja. Nur eine Wahl unter normalen Bedingungen hätte einen recht traurigen Ausgang – für ihn. Weil Erdoǧan dann aber nicht nur sein Amt, sondern weitaus mehr zu verlieren hat, wird er alle Register ziehen, um an der Macht zu bleiben.

Politisch und wirtschaftlich engt sich sein Spielraum immer mehr ein, da er sehr stark an Glaubwürdigkeit und Vertrauen verloren hat. Es bleibt ihm noch die Sicherheitskarte.

Die Angst vor Krieg, die Angst um die eigene Existenz und die der Angehörigen, die Angst vor militärischer oder wirtschaftlicher Gewalt hat eine zentripetale Wirkung, sie zieht Verängstigten dorthin, wo die Herrschaft sitzt und ihre Macht bestätigt sehen will.

Obwohl Erdoǧan den Ruf der Opposition nach Neuwahlen immer wieder abgelehnt hat, wird spekuliert, ob er nicht doch ebendiese Schritt für Schritt vorbereitet. Wollte er durch die Aktion zur Rettung der Lira sich selbst zum Retter der Nation profilieren?

Weitere Highlights der letzten Tage, wie z.B.  eine Videokonferenz zwischen Elon Musk und Erdoǧan anlässlich der Sendung eines neuen Satelliten ins All oder die Präsentation des türkischen Corona-Impfstoffs Turkovac. Ist Erdoǧan auf Erfolgsmeldungen aus, die ihn und seine Entourage nach Neuwahlen weitere fünf Jahre an der Macht halten? Werden diese „Erfolgsgeschichten“ ausreichen, um seine Macht zu sichern? Die Wählerinnen und Wähler sind mit der Zeit skeptisch geworden, denn jede einzelne „Erfolgsgeschichte“ Erdoǧans ist in sich zusammengebrochen, nicht nur, aber vor allem in der Außenpolitik.

Die Inflation ist noch da, genauso die Arbeitslosigkeit. Es werden Sicherheitsleute in Supermärkte und Läden geschickt, um sie zu zwingen, die Preise herunterzusetzen. Es wird von höchster Stelle mit Konsequenzen gedroht, wenn sie nicht parieren. Ausgenommen sind die Preise für Kraftstoff und Energie; die dürfen steigen. 700 – 800 Medikamente sind schon nicht mehr erhältlich. Die Türkei importiert den Dünger komplett aus dem Ausland; im letzten Jahr ist der Preis um das 15-fache gestiegen.

Die Devisenreserven sind im Minus. Erdoǧan behilft sich mit Swaps aus Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Aserbaidschan, demnächst wohl auch aus Malaysia.

Außerdem: Beim Kleinanleger scheint der Andrang für dieses Angebot jedoch so hoch nicht zu sein, da die privaten Banken von der Regierung dazu angehalten werden, bis zum 18. März 2022 die Anleger gefälligst zu überzeugen, ihre Deviseneinlagen doch in Lira zu halten. Für die 21 % Zinsen, die die Zentralbank an die Privatbanken abdrücken muss, während sie selbst nur 14% nimmt, darf man das doch mal erwarten (Achtung: Ironie!)!

Vielleicht wollte Erdoǧan bestimmte, ihm nahe Finanz-, Wirtschafts- und Bürokratie- und institutionelle Kreise durch diese Währungsakrobatik  finanziell im Voraus in Erwartung ihrer Unterstützung in den nächsten Wahlen be- (ent-)lohnen? Bei gegenseitiger Abhängigkeit ist dieses Szenario denkbar.

Am 03. Januar 2022 wird die aktuelle Inflationsrate bekanntgegeben. Vermutet wird ein Anstieg auf 30 %. Ob sich die  von der staatlichen Statistik-Institution TÜIK verkündete offizielle Inflation sich diesmal der realen Inflation wenigstens etwas annähert, bleibt abzuwarten.

Zum Gedenken an die Opfer des Roboski/ Uludere-Massakers und an Tahir Elçi

Ich will den Artikel nicht beenden, ohne heute am Jahrestag der tödlichen Angriffe der türkischen Luftwaffe auf eine Schmugglerkolonne in den Bergen von Uludere / Roboski an der irakisch-türkischen Grenze zu erinnern und zu gedenken. Vor genau 10 Jahren wurden 34 Zivilisten, kurdische Zigaretten-, Zucker-  und Treibstoff-Schmuggler, durch einen Luftangriff getötet, weil man sie für PKK-Kämpfer gehalten hatte, vorwiegend junge Menschen. Sie waren unbewaffnet. Dieser Vorfall zeigt auch – in Bezug zu den obigen Ausführungen – die extremen Widersprüche* in den gesellschaftlichen Strukturen der Landes: Einige Wenige bereichern sich ungestraft und mit staatlicher Hilfe am Volksvermögen, während andere, die unter unvorteilhaften Bedingungen auf die Welt kamen, und zu diesen gehören diese Schmuggler in meinen Augen, in ihrem Überlebenskampf am Ende durch staatliche Hand ihr Leben lassen mussten.

Vier Jahre danach, also am 28.11.2015 **, wurde der Menschenrechtsanwalt und Vorsitzender der Anwaltskammer in Diyarbakır, Tahir Elçi, erschossen. Die Umstände blieben ungeklärt. Tahir Elçi hatte kurze Zeit vor seiner Ermordung in einem Fernsehkanal gesagt, er halte die PKK nicht für eine Terrororganisation. Ein damals von der Opposition eingereichter Antrag auf die Einrichtung einer Untersuchungskommission wurde abgelenht.

Mal sehen was das nächste Jahr für die Türkei bringt. Es ist eine Herausforderung, der schwindelerregenden Aktualität zu folgen. Die Türkei ist ein schwieriges Land mit vielen Gesichtern. Ich versuche hier die wichtigsten Ereignisse zusammenzufassen und in einen Zusammenhang zu bringen. Deswegen werden die Texte immer etwas länger als am Anfang beabsichtigt.

Bis dahin wünsche ich allen Leserinnen und Lesern ein frohes Neues!

*Anderung im letzten Teil, erster Absatz, letzter Satz: „Dieser Vorfall setzt auch einen Kontrapunkt zu den oben dargestellten wirtschaftlichen Ereignissen: … “ wurde geändert. Denn dieser Vorfall setzt keinen „Kontrapunkt“. Er macht gesellschaftliche Widersprüche deutlich. Auch der Gegensatz in der staatlichen Handlung in beiden Fällen sollte deutlich werden, wurde also hinzugefügt. (29.12.2021)

** Korrektur: Zuvor war fälschlicherweise der 28.12.2015 angegeben.


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