A World Citizen’s Journal

Antisemitismus – die hegemoniale Deutungsoffensive 2

Fortsetzung von

3. BDS-Aufruf der jüdischen Wissenschaftler*innen an den Bundestag

Hier braucht es einen Flashback, um zu verstehen, worum es in diesem Aufruf geht und was der Anlass war. Zunächst muss geklärt werden, was BDS überhaupt ist.

            Der Name der transnationalen Kampagne BDS ist die Abkürzung für Boycott, Divestment and Sanctions (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen). Sie ging 2001 aus der 3. Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban (Südafrika) hervor. Die Initiatoren, rund 170 palästinensische zivilgesellschaftliche Organisationen und Vereine, stellten apartheid-ähnliche Verhältnisse auch in Israel und den besetzten Gebieten gegen die palästinensische Bevölkerung fest. Sie werfen Israel Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Völkermord vor und fordern das Ende der Besatzung aller arabischen Gebiete seit 1967 und ihre Rückgabe, den Abbau der Sperranlagen um das Westjordanland und den Gaza-Streifen, den Abbau aller auf palästinensischem Land gebauten illegalen israelischen Siedlungen, das Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen und die  völlige Gleichstellung der palästinensisch-arabischen Bürger Israels – kurz: ein Ende des Landraubs und der Besatzung, der Menschenrechtsverletzungen, der Unterdrückung und Diskriminierung der Palästinenser; sie fordern, dass Israel sich endlich internationalem Recht fügt und danach handelt.  Das will BDS durch Kampagnen des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Boykotts, durch den Abbau der Investitionen und durch Sanktionen erreichen.

            Diesen Forderungen antisemitische Motive zu unterstellen, wäre fatal und zerstörerisch, nicht zuletzt weil die BDS-Bewegung sich von jedem Rassismus, auch Antisemitismus und Islamophobie, abgrenzt und sich als inklusive, alle Nationen einschließende Bewegung versteht. Nicht die Juden, sondern die israelische Regierungspolitik, die internationales Recht verletzt, und das Erwirken einer Verhaltensänderung des Staates sind das Ziel von BDS. Der Zionismus wird als die Ursache der Unterdrückung des palästinensischen Volkes gesehen und ist demnach, wie der Antisemitismus auch, eine Form des Rassismus.

            Aus meiner bescheidenen Warte aus ist BDS keinesfalls rassistisch motiviert; über ihre Methodenwahl, die zum großen Teil der Verzweiflung entspringt, lässt sich immer noch streiten. Gewalt jedoch gehört grundsätzlich nicht zu den BDS-Methoden!

            Nun hat der Deutsche Bundestag am 17. Mai 2019 die BDS-Bewegung auf gemeinsamen Antrag von CDU/CDU, SPD, Grünen und FDP durch einen „symbolischen“ Beschluss für „antisemitisch“ erklärt. „Die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung sind antisemitisch“, heißt es zur Begründung. Nicht ernstgemeinte, sondern „vermeintliche Kritik an Israel“  wurde der BDS vorgeworfen.

Ergo:

Behauptung Nr. 5:            

Palästinenser*innen, die als Betroffene für  ihre Menschenrechte bzw. um ihr Existenzrecht kämpfen, sind antisemitisch.

Alle, die sie unterstützen oder sich mit ihnen solidarisieren, sind antisemitisch.                        

Dagegen formulierten über 60 jüdische und israelische Wissenschaftler*innen einen Aufruf an den Bundestag, die BDS-Kampagne nicht für antisemitisch zu erklären, indem sie auf die „Tendenz, Unterstützer palästinensischer Menschenrechte als Antisemiten abzustempeln, als alarmierenden Trend“ hinwiesen. Genau dieser Aufruf wurde aus dem Jüdischen Museum Berlin via Twitter höchst anerkennend als ein „Must-Read“ gepostet. Und das war schließlich eine Aktion, die in den Augen des Zentralrats „das Fass zum Überlaufen brachte“. Der Museumsdirektor konnte dem Sturm der Entrüstung nicht mehr standhalten und trat zurück.

Vom Antisemitismus und Zionismus

            Die oben in den Behauptungen zusammengefasste Sicht der israelischen Regierungen, des Zentralrats der Juden und zuletzt des Deutschen Bundestags stellen die zionistische Perspektive auf den Begriff „Antisemitismus“ dar.

  1. Jerusalem bzw. Palästina gehört den Juden.
  2. Die jüdische Perspektive hat Vorrang vor der palästinensischen.
  3. Judentum bedeutet Zionismus. Juden sind Zionisten.
  4. Wer antizionistisch ist, ist antijüdisch, also antisemitisch.
  5. Alle Palästinenser*innen, die Widerstand leisten und um ihre Rechte kämpfen und alle, die sie sich mit ihnen solidarisieren, sind Antisemiten.

Diese Behauptungen bauen aufeinander auf und bedingen sich gegenseitig. Aber es ist für das Verständnis der aktuellen Sachlage unerlässlich, sich die Entstehungsgeschichte der beiden Begriffe Antisemitismus und Zionismus etwas genauer anzuschauen.

            Antisemitismus und Zionismus sind Geschwister. Beide sind ab der Jahrhunderthälfte (Antisemitismus) bzw. im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (Zionismus) im Europa des aufklärerischen und nationalen Fiebers  entstanden. Sie waren die Schattenseiten 1. des Prozesses der Emanzipation der Juden mit dem Ziel der Aufhebung der kulturellen Trennung der Juden vom Rest der Gesellschaft und ihrer vollen bürgerlichen Gleichstellung, während die jüdische Aufklärung selbst (die Haskala, u.a. mit Moses Mendelssohn) diesem Ziel entgegenstrebte. Nach der Französischen Revolution 1789 gewann, zumindest in Westeuropa, die Überzeugung die Oberhand, dass die „jüdische Nation“ durch Emanzipation aufgelöst werden solle: „Dem Juden als Individuum alles, dem Judentum in seiner Gesamtheit nichts.“ (Stanislaw de Clermont-Tonnerre in der Französischen Nationalversammlung am 27. September 1791). Auf der anderen Seite wiederum war 2. das Entstehen der Nationalstaaten in vollem Gange. Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 erfolgte zwar die  rechtliche Gleichstellung der Juden. Doch sie verfingen insbesondere durch den als Reaktion auf die Emanzipation zeitgleich steigenden Antisemitismus – durch die Rassenlehre auch noch „wissenschaftlich“ unterlegt- in Loyalitätskonflikte, die teilweise durch den sich entwickelnden jüdischen Nationalismus aufgefangen wurden, den Zionismus.

            Als eine nationale Befreiungsbewegung verfolgte der Zionismus mit dem Wiener Schriftsteller und Journalisten Theodor Herzl den Traum von einem eigenen Nationalstaat der Juden. Stark von der Dreyfus-Affäre in Frankreich geprägt, veröffentlichte Herzl sein Buch Der Judenstatt (1896) und organisierte kurz darauf im Jahr 1897 den ersten Jüdischen Weltkongress in Basel. Im Baseler Programm wurde das Ziel festgehalten, „eine Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina“ zu errichten. Die jahrhundertlange soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Unterdrückung erst durch die religiös motivierte Judenfeindschaft, dann nationalistischen Antisemitismus sollte damit ein absolutes Ende finden. Auch die Emanzipation um den Preis der Auflösung ihrer jüdisch-nationalen Identität empfanden die Zionisten als eine Zumutung: Lieber einen Ort Heimat nennen, an dem die jüdische Identität nicht nur bewahrt werden, sondern auch sich entwickeln und aufblühen kann als die Assimilation!

            Mit der Balfour-Deklaration 1917 fand dieser Traum eines eigenen Heimat seine internationale Legitimierung. Viele europäische Juden  hatten sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts längst nach Palästina gerettet, insbesondere aus Osteuropa, wo die Juden vermehrt unter Armut und Pogromen leiden mussten.

            Wir wollen es hier mit einer kurzgefassten Darstellung der Entstehung von Antisemitismus und Zionismus bewenden lassen und überspringen die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus, in dem mit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 das juristische und institutionelle Fundament für die anschließende systematische, kaltblütig geplante und durchgeführte und akribisch aufgezeichnete, industrialisierte Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden gelegt wurde. Für dieses Verbrechen gibt es einen Namen, der das auf Menschenhass, auf Rassismus erbaute System von Vernichtungslagern zusammenfasst: AUSCHWITZ.

          Fazit

            Die Nazis hatten zwar den Antisemitismus nicht erfunden; er hatte die Jahrzehnte vorher existiert. Aber sie arbeiteten ihn in ihre Ideologie so ein, dass sie ein zum großen Teil antisemitisch verseuchtes Volk damit binden, es mobilisieren und zur Legitimation ihrer Taten über es verfügen konnten. So wurde gezielte Judenvernichtung möglich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Einrichtung „einer jüdischen Heimstätte in Palästina“, im Eretz (Land) Israel unerlässlich. So wurde im Mai 1948 Israel gegründet.

            Der Antisemitismus als die Praxis der Unterdrückung und am Ende der Auslöschung hatte den Zionismus als Idee und Praxis der Befreiung durch Staatsgründung hervorgebracht. So gilt der Antisemitismus als die historische Bedingung für den Zionismus und somit für den Staat Israel.

            Doch mit der Zeit haben sich sowohl der Antisemitismus als auch der Zionismus gewandelt. Heute ist der Antisemitismus genauso wenig eine Ideologie, die nur von der rassischen Minderwertigkeit, oder in diesem Fall sogar der unterstellten zerstörerischen wirtschaftlichen und kulturellen Überlegenheit der Juden ausgeht, wie der Zionismus eine nationale Befreiungsbewegung ist.

            Denn das Land Palästina war nicht menschenlos. Ab diesem Zeitpunkt, der Staatsgründung Israels 1948, fing das an, was bis heute andauert und was wir den „Nahost-Konflikt“ nennen. Es begann die gewaltsame Einnahme „des gelobten Landes“, die Vertreibung der ursprünglichen Einwohner (aus dem damaligen britischen Mandatsgebiet), die wir hier als ethnische Säuberung auf den Punkt bringen können und die sich den Palästinenser heute noch als Naqba (Katastrophe, Unglück) ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.

            Ist es denn so verwunderlich, wenn die ursprünglichen Einwohner dieses Landes und ihre Nachkommen die gewaltsame Landnahme als Besatzung bezeichnen und „Gottes auserwähltes Volk“ als Besatzer? Ist es uns nicht mit Sorge erfüllen, wenn dem Staate Israel das Existenzrecht auf einem „gelobten Land“ verliehen wird, wo derselbe Staat der dort eingewurzelten, dort beheimateten Bevölkerung sukzessive das Existenzrecht entzieht?  Wenn es Widerstand leistet? Wenn es sein Land, das für es Heimat bedeutet,  zurückfordert? Ist das so abwegig, dass viele Menschen auch aus dem „auserwählten Volk“ sich mit den Vertriebenen und Unterdrückten solidarisieren, weil sie sehen, dass da, gelinde gesagt, etwas ethisch „nicht ganz koscher“ ist?

            Die religiösen Juden, von denen im ersten Teil dieses Artikels die Rede war (Jerusalem-Ausstellung), warten auf die Ankunft des Messias; dann erst darf ein Staat Israel, wenn überhaupt, gegründet werden. Das ist der Grund, warum sie das „gelobte Land“ als einen zu früh errichteten Staat nicht akzeptieren. Das ist der Fall Nr. eins des Antizionismus.

            Da der Zionismus- und niemand kann ernsthaft bezweifeln, dass die israelische Politik zionistisch ist- sie mit Gewalt von ihrer Heimat vertrieben hat und noch heute durch seine Siedlungspolitik vollendete Tatsachen schafft und die Landnahme fortsetzt , ist selbstverständlich die palästinensische Bevölkerung als Betroffene antizionistisch. Das ist Fall Nr. zwei.

            Schließlich sind alle als antizionistisch zu beschreiben, darunter auch Juden und Jüdinnen, die sich mit der palästinensischen Bevölkerung solidarisieren und die zionistische Regierungspolitik verurteilen, also Israel-Kritiker*innen. Das ist Fall Nr. drei.

            Es ist nicht möglich, alle diese drei Formen des Antizionismus mit dem Antisemitismus gleichzusetzen. Worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Diese o.a. Fälle des Antizionismus sind selber nicht antisemitisch, aber eine Gefahr für den Antisemitismus! Denn erstens entlarven sie den Zionismus, der sich um das „gelobte Land willen“ sich von einer nationalen Befreiungsbewegung zu einer nationalistischen repressiven Staatsideologie entwickelt hat. Zweitens zeigen sie, dass mit der Gleichsetzung von Antizionismus mit dem Antisemitismus ein ideologischer Kreis geschlossen werden soll, den Israel für die Fortsetzung seiner Politik benötigt. Wenn der Widerstand gegen die zionistische Politik als antisemitisch verunglimpft werden darf, dann hat Israel die Rechtfertigung für seine Politik und der Kreis schließt sich. Denn Antisemitismus ist die historische Voraussetzung für den Zionismus und das soll auch so bleiben. Bei Antizionismus ungleich Antisemitismus wird dieser Kreis durchbrochen.

Das berührt nicht die Fälle, wo tatsächlicher Antisemitismus vorliegt: wenn verschwörungstheoretisch von Juden als mächtigen Drahtziehern gesprochen wird, von ihrer großen Präsenz und Kontrolle in den und über die Medien, von ihrer finanziellen und ökonomischen Übermacht, von der Überfremdung, davon, dass Juden ihre Feinde doch  selbst schaffen oder dass endlich mal ein Schlussstrich (Nationalsozialismus, Auschwitz) gezogen werden muss. Das ist Antisemitismus. Aber dank der Strategie der  „Vergangenheitsbewältigung“ (Was soll das Wort „Bewältigung“ in diesem Zusammenhang überhaupt bedeuten?) und dem „Existenzrecht Israels“ als Staatsräson, dem Mantra „Antizionismus ist Antisemitismus“ und dergleichen wird uns diese Art des Rassismus wohl noch länger erhalten bleiben. Denn damit schließt sich der Kreis. Damit arbeitet die Bundesrepublik ihre Vergangenheit aber nicht auf. Weder lernt sie selbst als Staat dazu noch als Gesellschaft. Sie bewältigt ihre Vergangenheit, indem sie sich ihrer entledigt. Sie streift damit Verantwortung ab. Sie schneidert sich eine Geschichte zu, mit der sich auf dem internationalen Parkett leichter Politik machen lässt. Dieser Ansatz sorgt dafür, dass neuer Antisemitismus, neuer Rassismus entsteht bzw. er in großen Teilen weiterbesteht, weil die Gesellschaft sich Geschichte nicht vergegenwärtigen kann.

            Prof. Dr. Peter Schäfer hat nun seinen Platz für seine/n Nachfolger*in freigemacht. Gerade er war dabei eben dieses Mantra, mit dem sich Kreis schließt – tatsächlich ein Teufelskreis- zu durchbrechen. Er hat nicht nur sich selbst Fragen um die brisante Materie des Nahost-Konflikts gestellt – genauso wie die meisten Besucher*innen eben auch- und sich selbst Konfrontationen und Unsicherheiten ausgesetzt, wie es Forscher normalerweise tun; er hat auch mit seinen Aktionen dafür gesorgt, das auch die Museumsbesucher mit Fakten berührt werden, so dass Fragen in ihren Köpfen entstehen und sie angeregt werden, auch außerhalb das Museum über deutsch-jüdische Geschichte und ihre Implikationen nachzudenken, sich Fragen zu stellen, nach Antworten zu suchen, eventuell wiederzukommen, zu vergleichen usw.. Das wäre aber dann nicht mehr „Vergangenheitsbewältigung“, sondern Lernen aus der Geschichte.

Aus diesem Grund ist der Rücktritt Peter Schäfers ein sehr großer Verlust für da s JMB. Was es braucht ist eine Leitung, das sich hegemoniale Mantras nicht zu eigen macht, sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen kann und sich notfalls sich auch ihnen entgegensetzen kann. Ob er/sie jüdisch ist, wie sich dies nun der Zentralrat und auch Lea Rosh, Mitinitiatorin des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin, wünschen, und dabei völlig vergessen, dass das Jüdische Museum Berlin keine Synagoge ist, oder ob er/sie Nichtjude/-jüdin ist, sollte dabei absolut keine Rolle spielen.


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