Hohe Erwartungen an das neue Jahr hatten sich in der Türkei verboten angesichts der hohen Inflation, des Werteverfalls der Währung und der wachsenden Armut.– doch Staatschef Erdoǧan setzt weiterhin auf Polarisierung der Massen. Diesmal im Fadenkreuz: ein Songtext der Pop – Ikone Sezen Aksu.
Preissteigerungen für Erdgas, Treibstoff, Elektrizität, Heizung, Brot und Lebensmittel – damit konnten die Lohnerhöhungen Ende des letzten Jahres, die nun weit hinter der offizielle Inflationsrate von 36% liegen, nicht mehr mithalten. „Er gibt uns mit dem Teelöffel und nimmt mit der Kelle“ musste die arbeitende Klasse erkennen.
„Er“ – das ist Recep Tayyip Erdoǧan, seit 2014 Staatsoberhaupt der Türkischen Republik, gleichzeitig Vorsitzender der regierenden AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi – Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung). Er ist beides in einer Person und noch viel mehr: er ist praktisch alle drei Gewalten – Exekutive, Judikative und Legislative – in einer Parson. Auch die Vierte Gewalt, die Medien, hat er zum größten Teil unter seine Kontrolle gebracht und gleichgeschaltet.
Dass es in der Türkei keine unabhängige Justiz gibt, die Türkei somit kein Rechtsstaat mehr ist, gehört inzwischen weltweit zum Allgemeinwissen. Das Land hatte zwar auch vor Erdoǧan Probleme mit der Rechtstaatlichkeit; doch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, von der die gesamte politische, soziale, wirtschaftliche, geistige wie leibliche Entwicklung einer Gesellschaft abhängt, war nie so harten staatlichen Angriffen ausgesetzt wie heute. Viele vergleichen die Lage mit der Zeit nach dem Militärputsch von 1980.
So ist Osman Kavala, der Unternehmer, der die Gezi – Proteste 2013 unterstützt hatte und dessen Freilassung der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert, auch nach der letzten Gerichtsverhandlung am 17. Januar nicht aus der Geiselhaft entlassen worden – „Geiselhaft“ deswegen, weil ihm bisher nichts nachgewiesen werden konnte, was ihm vorgeworfen wird – weder eine Zusammenarbeit mit Georg Soros, mit dem er die Gezi-Proteste angestiftet haben soll noch eine Zusammenarbeit mit Fethullah Gülen, dem in den USA lebenden islamistischen Prediger, mit dem er den gescheiterten Putsch 2016 organisiert haben soll. Im Dezember des letzten Jahres hatten zehn westliche Botschafter in einer gemeinsamen Deklaration seine Freilassung gefordert, was zu einem Eklat geführt hatte.
Hunderttausende sitzen auf Grund unhaltbarer Vorwürfe, vorzugsweise der „Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung einer terroristischen Organisation“ im Gefängnis – zum Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen, neben Foltervorwürfen wird auch die Verweigerung medizinischer Hilfe vorgeworfen. Wie z.B. auch in dem prominenten Fall von Aysel Tuǧluk, der ehemaligen Ko-Vorsitzenden der oppositionellen HDP (Halkların Demokratik Partisi – Demokratische Partei der Völker), die nachweislich während ihrer Haft an Demenz erkrankt ist.
Einfache Bemerkungen, die noch nicht einmal eine Kritik sein müssen, aber eben dem Staatschef missfallen oder auch nur missfallen könnten, ziehen Anschuldigungen der „Präsidentenbeleidigung“ nach sich, verbunden mit Geldstrafen bzw. finanziellen Entschädigungen für den Präsidenten. Das türkische Justizministerium selbst hielt in einem Bericht 2021 fest, dass bisher insgesamt über 160.000 Ermittlungen deswegen gegeben hat, von denen Tausende mit einer Gefängnisstrafen endeten, darunter auch Kinder.
Gefährliche Sprichwörter
So auch im Fall von Sedef Kabaş.
Die Journalistin Sedef Kabaş wurde am Samstag um 2 Uhr morgens abgeführt, weil sie in einem Fernsehprogramm des Fernsehsenders Tele 1 mit einem Sprichwort ihre Kritik am Präsidenten auf den Punkt gebracht hatte. Am Nachmittag wurde sie festgenommen. Wie konnten ehrwürdige Sinnsprüche, die seit Jahrhunderten allgemein wahrgenommene Phänomen in Worte fassen und Erklären wollen, bestraft werden?
Kabaş hatte auf Tele 1 Folgendes gesagt:
„Es gibt ein berühmtes Sprichwort: ‚Ein gekröntes Haupt wird weise.‘ Aber wir sehen, dass das nicht wahr ist. Oder ein Sprichwort, das genau das Gegenteil bedeutet: ‚Wenn das Vieh (hier nennt der Volksmund oft den Ochsen) in den Palast hineinläuft, wird aus ihm kein König; der Palast hingegen wird zum Stall.‘ „
Das zweite Sprichwort hatte sie auch getwittert:
Kabaş wurde daraufhin von Erdoǧan- Anhängern in sozialen Medien massiv angegriffen und von regierungsnahen Gruppen zur Zielscheibe erklärt. Der Hohe Rat für Radio und Fernsehen (RTÜK) kündigte Untersuchungen zum Fernsehsender Tele 1 an. Justizminister Abdülhamit Gül schrieb auf Twitter:
„Ich verurteile die hässlichen Worte, die frei von jedem Anstand sind und unseren mit den Stimmen unseres Volkes gewählten Präsidenten zum Ziel haben. Die unverschämten und rechtlosen Aussagen rühren aus Neid und Hass und werden vor dem Gewissen der Nation und der Justiz die verdiente Antwort finden.“
Hier wird das gesamte Land vom Justizminister höchstpersönlich gegen eine Journalistin mobil gemacht. Der Begriff „Hetze“ bzw. „Volksverhetzung“ trifft diese Handlung, denke ich, ganz gut – im Prinzip ein Straftatbestand. Wenn es nach Gül geht, hat es das ganze Land gefälligst im Namen des Präsidenten persönlich zu nehmen. Solche Aufrufe versetzen diejenigen, die sich angesprochen fühlen, in Alarmbereitschaft für eventuelle ähnliche Fälle von „Respektlosigkeit“ gegenüber dem Präsidenten. Und diejenigen, die sich nicht angesprochen fühlen, halten sich in Zukunft mit ihrer Kritik zurück. So wird Angst gestreut..
Die Fähigkeit zur Abstraktion hat Erdoǧan und seine Anhänger nie ausgezeichnet. Dass ein Sprichwort die Erfahrungen einer Gemeinschaft über Jahrhunderte hindurch – auch und vor allem ihre Erfahrungen mit Unterdrückung und Herrschaft in einen Satz destilliert, um sie bei passender Faktenlage widerzugeben, zwingt ihnen keinen Respekt ab. Es wird wörtlich und persönlich genommen – mit entsprechenden Konsequenzen.
Sedef Kabaş sitzt seit gestern Abend (21.01.2022) in Haft und soll verurteilt werden – wegen Beleidigung des Präsidenten.
„… die Pflicht, die Zunge herauszureißen“
Im Kern ähnlich liegt der folgende Fall der letzten Tage:
Freitag (21.01.2022) war der Tag, an dem wieder einmal eine Herabsetzung der Zinsen erwartet wurde. Präsident Erdoǧan spricht sich bekanntlich immer wieder gegen Zinsen und Zinserhöhungen aus, indem er auf die heilige Schrift verweist: Im Koran sind Zinsen haram, verboten.
Doch am letzten Freitag kam es nicht zu einer weiteren Herabsetzung der Zinser. Wie dies den Gläubigen und seinen Wählerinnen und Anhängern erklären? Wie die Fragen seiner Kritiker aus beiden Lagern parieren?
Der Griff zur Religion als Schutzschild gegen Kritik und als Ablenkungsmanöver ist nicht neu. Der Präsident wollte von der desaströsen Geschäftslage im Land ablenken und gleichzeitig ein Exempel statuieren, das allen seinen Kritiken, aber vor allem seinen Kritikerinnen zeigen sollte, dass er nicht davor zurückschrecken würde, den Gewaltpegel bis zur Terrorstufe aufzudrehen.
Erdoǧan hatte einen Plan:
Er ging nach dem Freita gsgebet in der Çamlıca – Moschee in Istanbul nach vorne zum Imam an die Kanzel und sagte:
„Niemand darf den Propheten Adam beleidigen. Sollte dies jemand tun, so ist es unsere Pflicht, ihm die Zunge herauszureißen. Auch Eva, unsere Mutter, darf niemand angreifen. Sollte dies doch jemand tun, müssen wir ihm seine Grenzen aufzeigen.“
Präsident Recep Tayyip Erdoǧan in der Çamlıca – Moschee in Istanbul , 21.01.2022.
Sezen Aksu, die Königin der türkischen Popmusik, die auch mit Udo Lindenberg vor dem Mikrofon gestanden und u.a. mit der Ikone der griechischen Volksmusik Haris Alexiou die Bühne geteilt hatte, hatte zum Neujahr am 30. Dezember 2021 auf ihrem Youtube-Kanal einen Clip zum Song mit dem Titel “ Şahane Bir Şey Yaşamak“ – „Das Leben ist etwas Wundervolles“ gepostet und dazu auch einen kleinen Text mit ihren Neujahrswünschen verfasst.
Die ersten beiden Zeile im Songtext haben für Aufruhr unter Regierungsanhängern gesorgt. Die erste ist etwas schwieirig ins Deutsche zu übersetzen:
„Bindik bir alâmete, gidiyoruz kıyamete“ bedeutet zu Deutsch etwa „Wir sind auf etwas Unbestimmtes aufgestiegen und steuern in die Apokalypse.“
Dieser Satz wurde auch vorher in anderen (gesellschaftskritischen) Liedern gesungen (z.B. in den 1970ern von Cem Karaca), sodass es wohl den regierungsnahen Kreisen und Erdoǧan – Anhängern aufgestoßen ist.
Aber noch mehr Erregung zur Folge hatte:
„Selam söyleyin o cahil Havva ile Adem’e“, zu Deutsch also „Grüßt mir die ignoranten Adam und Eva“.
Adam und Eva – ignorant? Das auch hier wieder Abstraktion im Spiel ist und mit der Ignoranz von „Adam und Eva“ symbolisch der Mensch an sich gemeint ist, spielte für Erdoǧan und Anhänger keine Rolle mehr. Diese Einsicht wäre hinderlich für den Plan.
Auch die Neujahrsbotschaft sorgte für Stirnrunzeln bei regierungstreuen Personen: Sezen Aksu sprach von der „Freiheit, der man bedingungslos folgen“ müsse, von der „Kraft der Solidarität“, von der „Gewalt, die fortwährend normalisiert“ würde und „wir uns schämen müssten, weil wir mit unseren klitzekleinen Geistern Spielchen trieben, um Gewalt weiter zu normalisieren„; sie sprach von einer echten Gerechtigkeit … (Hervorhebung von der Autorin)
Organisierte Scharfmacher im Dienste Erdoǧans: Milli Beka Hareketi (Bewegung für das Nationale Überleben)
Das Lied ist zwar schon fünf Jahre alt, aber eine Erdoǧan-nahe Gruppierung, die sich die sogenannte „Milli Beka Hareketi“ (Bewegung für das Nationale Überleben) nennt, hatte es jetzt erst entdeckt und sich sofort entschieden, Sezen Aksu anzuzeigen. Ihr Vorwurf: „Beleidigung, Provokation und Erniedrigung der religiösen Werte“. In ihrer Website propagandiert die Organisation „die Rückkehr zur kulturellen Einheit des Islam“, „Rückkehr zum Eigenen“ und eine „Normalisierung“ (erinnert irgendwie ein wenig an die AfD mit ihrem Wahlslogen 2021: „Deutschland – Aber normal!“)
Der Vorsitzende der „Bewegung“, Murat Șahin, hatte Sezen Aksu nach Hooligan- Manier gedroht: „Am Abend sind wir vor deiner Haustür!“.
Auch Pop-Star Tarkan war kürzlich in sein agitatorisches Kreuzfeuer geraten: In dessen Song „Cuppa Cuppa“ von 2016 – der Songtext stammt übrigens auch von Sezen Aksu – seien geheime Botschaften zum (gescheiterten) Putsch von 2016 enthalten – „Cuppa Cuppa“ solle eigentlich „Junta Junta“ bedeuten … Jedes weiter Kommentar erübrigt sich an diesem Punkt.
Tarkan gehört zu den Prominenten, die sich vom „Palast“ nicht vereinnahmen ließen. Er hat unter anderem immer wieder Umweltschutz angemahnt, hat sich fortwährend kritisch gegen die Überflutung der uralten Kulturstätte im Tigris – Tal durch den Ilısu-Staudamm geäußert, bis sie nicht mehr aufzuhalten war. Zuletzt hatte er die Schließung aller Studentenherbergen gefordert, die von religiösen Sekten und Organisationen gegründet und geleitet werden. Der Anlass war der Freitod des 19-jährigen Studenten Enes Kara, der durch sein Elternhaus in solch ein Heim gedrängt wurde, sich einem permanenten religiösen Drill ausgesetzt gesehen und keinen anderen Ausweg mehr gefunden hatte, als sich das Leben zu nehmen. Sein Tod führte zu einem gesellschaftlichen Aufschrei und führte erneut vor Augen, welche politische und soziale Macht die religiösen Orden und Sekten über die letzten Jahre angehäuft haben.
Die überwältigende Antwort der Dichterin
Erdoǧan nannte bei seiner Hetze in der Moschee keine Namen, also der Name Sezen Aksus fiel nicht. Doch es sollte klar sein, dass mit und über Sezen Aksu alle gemeint sind, die es wagen sollten, eine vergleichbare Haltung auszusrücken.
Indem Erdoǧan insbesondere die „Adam und Eva“- Zeile als ein Angriff auf die heiligen Personen des Islam wertete, und von der Pflicht sprach, allen, die dies täten, die Zunge herauszureißen, können wie nicht nur von einer Drohung, sondern auch von einer Hetze ausgehen, von einem Auftrag sogar des Präsidenten höchstpersönlich, auf diese oder ähnliche Weise die „Häretiker“ und „Gottlosen“ zu bestrafen. Und von der Garantie, dass solch eine Tat ungeahndet und ungestraft bleiben wird.
Dies ist zweifellos ein Anlass und ein Grund, den Staatspräsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdoǧan, wegen Volksverhetzung vor Gericht zu führen. Nur ist eben keine Justiz mehr vorhanden, die dies hätte tun können und sollen.
Am Ende zeigten die Festnahme Kabaşs wegen ihrer „sprichwörtlichen“ Vergleiche und die Reaktion Erdoǧans auf die Neujahrswünsche und den Songtext von Sezen Aksu, wie recht beide hatten und haben. Oder abstrakt zusammengefasst: Kunst und Kultur haben wieder einmal im Namen der Subalternen einem Herrschaftssystem den Spiegel vorgehalten.
Am Samstagabend hat die Sängerin und Lyrikerin Sezen Aksu, „der kleine Spatz“ wie sie wegen ihres kleinen Wuchses seit Jahrzehnten liebevoll auch genannt und verehrt wird, einen Text veröffentlicht, ein Gedicht … wie er treffender die bedrohliche, qualvolle und verzweifelte Lage von „Adam und Eva“ in ihrem Land, nicht ausdrücken kann.
Der Text war Stunden nach seiner Veröffentlichung schon in Kurdisch, Armenisch, Griechisch und Aramäisch übersetzt, einen Tag darauf schon in fast alle lebendigen Sprachen der Welt.
Es ist eine Klage, die gleichzeitig Widerstand ist, die Verletzung offen zeigt, aber die Angst abgelegt hat und gleichzeitig dem Adressaten seine Grenzen aufzeigt. Es ist eine Herausforderung an den Tyrannen, ein Aufschrei: „Ich bin alle.“
AVCI Sen beni üzemezsin Zaten çok üzgünüm Nereye baksam acı Nereye baksam acı Ben avım sen avcı Vur bakalım… Sen beni sezemezsin Dilimi ezemezsin Nereye baksam acı Nereye baksam acı Kim yolcu kim hancı Dur bakalım… Beni öldüremezsin Sesim, sazım, sözüm var benim Ben derken ben herkesim Sonuç olarak 47 yıldır yazıyorum…. Yazmaya da devam edeceğim.
DER JÄGER Du kannst mir nicht wehtun Ich bin ohnehin sehr traurig Wohin ich auch sehe, ist Schmerz, Wohin ich auch sehe, ist Schmerz, Ich bin die Beute, du bist der Jäger Schieß nur … Du kannst mich nicht fühlen Du kannst meine Sprache nicht unterdrücken Schmerz, wohin ich auch sehe Schmerz, wohin ich auch sehe Wer ist der Reisende, wer der Wirt Warte mal ab ... Du kannst mich nicht töten Ich habe eine Stimme, eine Laute, Worte Wenn ich sage ich, ich bin alle Schließlich schreibe ich seit 47 Jahren ... ich werde auch weiterhin schreiben.
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